"Du hast das Rennen unter 500.000 anderen gewonnen, der Hauptgewinn deines Lebens“

19 April 2021
© David Baltzer

Das mittlerweile allzu bekannte gelbe Festivalvorschaubild verschwindet und ich sehe das erste Mal auf diesem Festival ein Kamerabild, das sich bewegt. Durch eine Tür, durchs Foyer, durch noch eine Tür zur großen Bühne, durch eine Holztür diesmal in den dunklen Theaterraum. Hach, LIEBE endlich mal wieder ein Theater von innen. 

Die Inszenierung Mr. Nobody von Jan Gehler am Jungen Schauspiel Düsseldorf ist ein One-Shot-Film, der die Frage nach den Auswirkungen jeder unserer Entscheidungen stellt - das berühmte: Was wäre wenn. Die Vorlage ist das Drehbuch von Jaco Van Dormael. Der Film ist 2009 erschienen. Die Bühne ist ein halbrunder Raum, eine Art Riesentafel. Die Spielenden malen sich ihr Bühnenbild permanent selbst, das ist höchstsspannend und immer wieder neue Bilder zu entdecken macht die ganze Vorstellung lang Spaß. 

Nemo Nobody gespielt von Jonathan Gyles wird beim Aufwachsen begleitet, begonnen kurz vor seiner Geburt bis hin zu seinem Post-Pubertären-Selbst. Immer wieder geht die Inszenierung zurück auf Nemos Leben im Jahr 2102 in einer Klinik, wo ein Journalist und eine Psychiaterin versuchen herauszufinden, was denn nun eigentlich sein Leben war. Und so bewegt sich das Stück zwischen Nemo in fünf möglichen Vergangenheiten und in eben diesem Krankenhaus. „Vor unserer Geburt wissen wir alles“, sein Leben das sind endlose Möglichkeiten, die Nemo leider nicht ausschließen kann, da in dieser Welt jedes ungeborene Kind sein Leben in allen möglichen Versionen bereits kennt, diese Erinnerung aber vor der Geburt gelöscht werden sollten. Nur haben die Engel des Vergessens Nemo scheinbar leider vergessen. 

Mit acht wird er vor die Entscheidung seines Lebens gestellt: Mit Mama weg oder bei Papa bleiben und Nemo kennt die Ausgänge aller Szenarien. Und so begleitet das Publikum Nemo durch eine jede dieser Varianten. „Nachdem ich alle Möglichkeiten gesehen haben, weiß ich noch viel weniger, welche ich will“. 

Süß auch, wie Nemo, in bester Nerd-Manier, von einem Mädchen aufgefordert etwas zu sagen, einfällt: „Die Schwerkraft auf dem Mars ist nur 2 1/3-mal so hoch wie auf der Erde.“ Am Ende ist unsere Welt dann doch mehr Physik und Biochemie -Verliebtsein, als dass sie romantisch ist. 

Mir ist das Herz viele Male gebrochen, allein vor dem Laptop hatte ich das Bedürfnis viele der Charaktere mindestens einmal in den Arm zu nehmen. Zwischendurch schien die Moral des Stücks zu lauten: Egal, was du tust, irgendwem wird immer verletzt, einsam sein. Das gut 1½-stündige Stück schafft es empathisch mit all seinen Figuren umzugehen, verliert zunehmend aber zwischen all den Beziehungsgeschichten die eigentliche Erzählung aus den Augen. Da wirkte das Stück mehr wie Romanze als Theater. „Denn alles hätte auch anders passieren können und dennoch hätte es die gleiche Bedeutung. 

In jeder Klasse sollte an der Tafel stehen: Das Leben ist ein Spielplatz und sonst nichts“, ein Satz der gerade in Pandemiezeiten ein bisschen Hoffnung, ja beinahe Erleichterung alleine vor den Laptop bringt. Mr. Nobody - weil wir eben am Ende doch durch unsere Entscheidungen sind, wer wir sind, und zu nichts mutieren,  wenn wir das Leben nur mit uns passieren lassen.

Jana Oehlerking | Redaktion Hingucker*innen

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