Vom Spezialtheater zum Normaltheater
von Gerd Taube
Es ist eine Eigenart dieser Theaterkunst, ob sie nun Kinder- und Jugendtheater, Junges Theater oder Theater für junges Publikum genannt wird: Sie definiert sich über ihr Publikum. Diese Spezifik ist die grundlegende Konstante in der Entwicklung dieser Theaterform in den letzten 30 Jahren. Aber die unterschiedlichen Bezeichnungen, die sich über drei Jahrzehnte etabliert haben, weisen auch auf einen Wandel hin. Das Verständnis von der Kunst des Theaters für Kinder und Jugendliche hat sich verändert und diese Veränderungen lassen sich über die Jahre anhand der beim Festival AUGENBLICK MAL! geführten Fachdiskussionen verfolgen. Dabei ist es insbesondere das Selbstverständnis der Theaterkünstler*innen, das sich in den vergangenen 30 Jahren gewandelt hat.
Das 1. Deutsche Kinder- und Jugendtheatertreffen 1991 wurde mit dem Zitat der Rede eröffnet, die der sowjetische Theaterleiter Alexander A. Brjanzew 1921 zur Eröffnung des Leningrader Theaters für junge Zuschauer gehalten hatte. In seiner Ansprache hatte Brjanzew sein Credo formuliert, dass das Theater, das seinen Zuschauer gefunden habe, auch in der Lage sei, seinen Stil zu finden und damit das Selbstverständnis für nachfolgende Generationen von Theatermacher*innen formuliert: Kinder haben ein Recht, auf ein ihnen gemäßes Theater. Weswegen „sich Bühnenkünstler, die fähig sind, wie Pädagogen zu denken, mit Pädagogen, die berufen sind wie Künstler zu fühlen“ zusammentun müssten.
In diesem Statement zeigt sich aber auch eine Konfliktlinie, die auch heute noch gelegentlich Diskussionen über das Theater für junges Publikum bestimmen: Das Verhältnis von Kunst und Pädagogik, das sich insbesondere in der künstlerischen Haltung der Macher*innen zum jungen Publikum zeigt. In den Diskursen der letzten drei Jahrzehnte ist dabei immer wieder von einer Emanzipation vom Pädagogischen die Rede, also die Überwindung des vermeintlich Lehrhaften durch die Kunst. Bei dem Festival 1991 war damit vor allem die Überwindung des emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters gemeint, aus dem sich seit den 1970er Jahren in der alten Bundesrepublik überhaupt erst das Verständnis eines modernen Theaters für Kinder und Jugendliche entwickelt hatte. Dabei setzte man den aufklärerischen Impetus dieses Theaters mit pädagogischer Didaktik gleich und verkannte die Tatsache, dass jegliches Theatererlebnis eine Anregung zum Nachdenken beinhaltet und die Kunst, insbesondere die des Theaters für Kinder und Jugendliche, nicht als Selbstzweck existiert. Dabei ist die gesellschaftliche Unangepasstheit, die dem emanzipatorischen Theater mit seiner Kunst erst zum Durchbruch verholfen hat, auch heute noch ein Grundpfeiler des Selbstverständnisses der Theatermacher*innen, die in ihrer Kunst Fragen an die Welt, wie sie ist, stellen und gesellschaftliche Utopien formulieren.
»Kinder- und Jugendtheater muss unruhig machen und darf nicht zufrieden stellen. Es muss zum Denken bringen, wütend machen, Lust machen, zum Lachen und Weinen bringen, zum Sprechen bringen, Mut machen (auch verzweifelten) zum Träumen bringen – aber nicht zum Weg-Träumen, sondern zum Hin-Träumen –, es muss Hunger machen auf die Verwirklichung der Träume.« 1
Zum Selbstverständnis der Macher*innen gehört auch, damals wie heute, dass das Theater für junges Publikum einen Bezug zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen haben muss. Das lässt sich über die Jahre an den Themen der zu AUGENBLICK MAL! eingeladenen Inszenierungen ablesen. Neben jeweils aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen, die über die drei Jahrzehnte Kindheit und Jugend im Wandel reflektieren ziehen sich als Konstante universelle Themen durch die Programme der Festivals: Träume, Ängste und Sehnsüchte, Fragen nach Identität, dem Sinn des Lebens und dem Glück, Tod, Liebe und Gewalt. An der Wahl der Themen zeigt sich, dass die Theatermacher*innen Kindheit und Jugend nicht als vom gesellschaftlichen Leben abgetrennte Sphären begreifen, sondern sie nehmen die Kinder und Jugendlichen als selbstbewusste Beteiligte an diesem Leben ernst und entwickeln ihre Kunst in der kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt.
»In diesen sechs Festivaltagen steht das zeitgenössische Kinder- und Jugendtheater im Mittelpunkt, und zwar als genau das, was es ist: eine eigenständige und starke Kunstform, die sich im Dialog mit den Realitäten ihres jungen Publikums befindet und somit permanent in Bewegung ist.« 2
Ein weiterer Entwicklungsstrang, der sich an den Diskursen der Festivals in den letzten 30 Jahren ablesen lässt, ist der Wandel des Selbstverständnisses vom Kinder- und Jugendtheater als ein Spezialtheater, also einem speziellen Theater für Kinder und Jugendliche, hin zum Normaltheater, das sich als ein Theater für alle begreift, obschon der künstlerische Fokus weiterhin auf den Interessen und Bedürfnissen der jungen Zuschauer*innen liegt. Bemerkbar macht sich diese Entwicklung in der zunehmenden Auflösung von Abgrenzungen. Insbesondere in den 1990er Jahren war die Betonung der Trennungslinie zum Theater für Erwachsene kulturpolitisch motiviert, wobei das Spezialistentum für Kinder und Jugendliche als exklusives Kriterium herausgestellt wurde. Mit Beginn der 2010er Jahre wurde indessen immer deutlicher, dass auch andere Theater- und Performancekünstler*innen für junges Publikum spielen und dass deren ästhetische Handschriften als Impulse für die künstlerische Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters wirken. In den letzten zwei Jahrzehnten haben Theater und Theatermacher*innen zunehmend die institutionellen Abgrenzungen untereinander überwunden. Vielfältige Formen des Kooperierens sind der grundlegende modus vivendi des heutigen Theaters für junges Publikum: Sparten des Jungen Theaters an Stadttheatern, Produktionshäuser und Festivals koproduzieren mit freien Theatern, Kollektiven und Künstler*innen.
»Was bewegt die Partner, es miteinander zu tun? Bei all ihrer Verschiedenheit? Die Unterschiede! Was hast du, was ich nicht habe? Das ist die Frage, die erst einmal mutig – weil öffentlich neidvoll – gestellt sein will. Ein Mut, der den Hochmut der Abgrenzung überwindet, der die unzeitgemäße Verachtung für den angeblich armen Vetter beiseite schiebt, den Angstfantasien von den angeblich verbeamteten Kollegen der Stadt- und Staatstheater entgegenlacht und den Blick in nüchterner Gier auf Fettpolster und Spannkraft, auf die Gelassenheit und Ordnungen, auf die Vereinigungspotenziale des jeweils anderen richtet.« 3
Diese Ausdifferenzierung der Akteur*innen, die ihre Kunst auch für ein junges Publikum öffnen, hat zudem einen Trend verstärkt, der bereits in den 2000er Jahren begann: Die Grenzen zwischen den Theaterformen fallen. Experimentierfreudige Theatermacher in der Kinder- und Jugendtheaterszene probierten sich und ihre Möglichkeiten genreübergreifend aus. Das zeigte sich unter anderem in choreographischen und rhythmischen, körperlich dominierten Arbeiten, in Formen des Tanzes, dem Einsatz von audiovisuellen Medien und der Orientierung an der Pop- und Comic-Kultur. Und auch das gemeinsame Agieren von professionellen Darsteller*innen und Laien auf der Bühne begann Fuß zu fassen. In solchen Öffnungsszenarien entwickelte sich das Expertentum der Künstler*innen des Kinder- und Jugendtheaters und das Selbstbild dieses Theaters als Schauspieltheater wandelte sich mit der Überwindung der Genregrenzen hin zu einer interdisziplinär gedachten und gemachten Kunst. Und genau darüber definiert sich Theater für junges Publikum heute als eigenständige Kunstform.
»Es gibt eine enorme Spannbreite an Stilen, Lesarten, Handschriften, ästhetischen Zugängen zu Stoffen und Themen. Das polyphone Kinder- und Jugendtheater wird immer vielstimmiger. Die Zugriffsarten zeigen, dass die Künstler den Kindern und Jugendlichen zutrauen, Theater als ein besonderes unter vielen Medien zu verstehen. Cross-over- Produktionen mit anderen Kunstformen werden immer selbstverständlicher.« 4
Die Festivals in den vergangenen 30 Jahren haben all die beschriebenen Entwicklungen in den eingeladenen Inszenierungen gespiegelt und in den Fachdiskursen mit dem Ziel reflektiert, das Theater für junges Publikum zu stärken – als Teil der außerschulischen kulturellen Bildung, als dritten Lernort und als darstellende Kunst für junges Publikum. Die Theater, Kollektive und Gruppen, die in unterschiedlichster struktureller Verfasstheit Theaterkunst für Kinder und Jugendliche produzieren sind inzwischen ein integraler Bestandteil der Theaterlandschaft in Deutschland und aus dem deutschen Theatersystem nicht mehr wegzudenken. In ihnen bündeln sich die Ressourcen der Theaterkunst für Kinder und Jugendliche, für die immer wieder kulturpolitisch gestritten werden muss. Diesen Kampf führen die Theatermacher*innen und ihre Interessenvertretung, die ASSITEJ Deutschland, inzwischen mit starkem Selbstbewusstsein. Und dass jedes Jahr neue Akteur*innen dazu kommen, sei es in der freien Szene oder sei es als Sparte an Stadttheatern, zeigt, dass die Entwicklung der Landschaft noch längst nicht abgeschlossen ist und es noch genügend Orte gibt, an denen dieses Theater noch fehlt. Auch das Selbstverständnis der Theatermacher*innen wird sich immer weiterentwickeln. Die letzten 30 Jahre haben den Grund gelegt, sich kommenden Herausforderungen zu stellen und die darstellenden Künste für junges Publikum für die Zukunft gut aufzustellen.
1 Günter Jankowiak: Zwölf notwendige Sätze zum Kinder- und Jugendtheater, in: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Augenblicke. Zum Theater für Kinder- und Jugendliche in Deutschland, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1992, S. 153.
2 Bernd Mand: Bedeutsam. Herausragend. Impulsgebend. Ein Reisebericht über die Suche nach zehn besonderen Perspektiven, in: Festival des Theaters für junges Publikum Augenblick mal! 2013 (Programmbuch), S. 27.
3 Peter Fischer, Ina Kindler-Popp, und Franziska Steiof: Offene Fragen – Vorläufige Antworten. Bericht der Auswahlkommission, in: 7. Deutsches Kinder- und Jugendtheatertreffen Augenblick mal! 2003 (Programmbuch), S. 25.
4 Werner Mink und Anne Richter: Offene Grenzen und Türen, in: Festival des Theaters für junges Publikum Augenblick mal! 2009 (Programmbuch), S. 19)